Ermüdungsfrakturen und ­weitere Krankheitsbilder am Sesambein

Foto: Renate Wolansky
1 Klinischer Test bei Verdacht auf eine Sesambeinerkrankung mittels einer Hyperdorsalextension (Überstreckung) der Großzehe. Foto: Renate Wolansky

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Sesambeine sind platte, runde, kleine Knochen, die in Sehnen eingelagert sind und den Sehnenapparat auf Abstand zu den Knochen halten. In ihrem Beitrag widmet sich Autorin Renate Wolansky Ermüdungsbrüchen am Sesambein sowie anderen Krankheitsbildern. Häufig betroffen sind vor allem Ausdauer- sowie Ballsportlerinnen und -sportler.

Sesambeine (Os sesamoideum) sind kleine Knochen, die immer in einer Sehne unter einem Knochen und Gelenk eingelagert sind. Der Mensch verfügt über mehrere Sesambeine, wobei die Kniescheibe (Patella) das größte Sesambein darstellt. Hinzu kommen kleinere Sesambeine wie die Fabella, als inkonstantes bohnengroßes Sesambein in der Sehne des lateralen Zwillingsmuskels (Musculus gastrocmemius) gelegen, das Erbsenbein in der Handwurzelregion (Os pisiforme) sowie zwei plantare unterhalb des Köpfchens des I. Mittelfußknochen (I. Os metatarsale) gelegene.

Eine lange Geschichte

Sesambeine plantar am Großzehengrundgelenk (I. Metatarsophalangealgelenk) sind Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt geworden: Bereits 1656 erwähnte der Anatom J. W. Placentini Sesambeine auf seinen anatomischen Tafeln des Fußskeletts. In den weiteren Jahren folgten ausführliche Berichte über Sesambeine am Großzehengrundgelenk. So beschrieb der Anatom A. Gilette 1892 eine ovale Form des medialen und eine runde Form des lateralen Sesambeins am Großzehengrundgelenk. 

Mit Erfindung der Röntgentechnik durch den Physiker Wilhelm Conrad Röntgen im Jahr 1895  beschrieb der Anatom Wilhelm Pfitzner als Erster eine anlagebedingte Teilung am Sesambein am Fuß. Ferner diagnostizierte Schunke 1901 eine Fraktur des medialen Sesambeins am Fuß im Röntgenbild. Weitere Autoren thematisierten zu dieser Zeit darüber hinaus die Verknöcherung (Ossifikation) während der Wachstumsperiode bei Mädchen und Jungen.

Os sesamoideum: Anatomische Grundlagen

In Größe und Form sind die Sesambeine beim Menschen sehr variabel. In der Regel beträgt die Größe des medialen oder tibialen Sesambeins jedoch 10 bis 15 Millimeter; die des lateralen oder fibularen Sesambeins 10 bis 12 Millimeter.

Plantar am Großzehengrundgelenk liegen das mediale und das laterale Sesambein. Die beiden kleinen runden, ovalen bis bohnengroßen platten Knochen sind in der Sehne des kurzen Großzehenbeugers (Musculus flexor hallucis brevis) eingebettet. Der Ursprung des Muskels befindet sich am I. Keilbein (Os cuneiforme mediale), der Ansatz am medialen und lateralen Sesambein. Innerhalb beider Schaltknochen befindet sich die Sehne des langen Großzehenbeugers (Musculus flexor hallucis longus).

Der Abzieher der großen Zehe (Musculus abductor hallucis) setzt zusammen mit dem medialen Kopf des kurzen Großzehenbeugers (Musculus flexor hallucis brevis) am medialen Sesambein und der Großzehenanzieher (Musculus adductor hallucis) mit dem lateralen Kopf des kurzen Großzehenbeugers (Musculus flexor hallucis brevis) am lateralen Sesambein und der Grundphalanx der Großzehe (Hallux) an. Untereinander sind beide Sesambeine mit dem Ligamentum (Band) intersesamoideum und dem Ligamentum metatarseum transversum profundum verbunden.

Die Sesambeine und ihre Funktion

Sesambeine bewirken durch ihre Einbettung in eine Sehne eine genügende Abstandshaltung zum umliegenden Knochen und Gelenk. Daraus resultiert ein verlängerter und verstärkter Hebel der Sehne. Des Weiteren ist ein geringerer Kraftaufwand für die Bewegung des Knochens notwendig.

Letztlich verhindern die kleinen Knochen, dass die Sehne in der Nähe des sich befindlichen Knochens durch stärkere Druckbelastung beim Gehen, Laufen, Rennen oder Klettern geschädigt wird. Außerdem garantieren ein Fettpolster und eine derbe Fußsohlenhaut einen weiteren wichtigen Schutz vor Druck-, Stauch- und Scherbelastungen am Fuß.

Ursachen und klinische Symptome einer Sesambeinfraktur

Stressfrakturen, sogenannte Ermüdungs- oder Überlastungsfrakturen, der Sesambeine resultieren vor allem aus wiederholten langanhaltenden Belastungen mit Ermüdung des Knochens durch Wandern, Laufen, Jogging oder Ballspieldisziplinen wie Volleyball, Basketball, Tennis oder Fußball. Ursächlich liegt eine Ermüdung des Knochens aufgrund von sich entwickelnden zunehmenden knöchernen (ossären) Umbauprozessen vor. Ferner kann das Tragen von ungeeigneten Schuhen zu einer Stressfraktur führen. Betroffen ist häufig das mediale Sesambein. Direkte Traumata betreffen Quetschungen, Fehltritt, Überrollung oder Stoß des Vorfußes.

Betroffene Personen geben bei Belastung einen tiefen dumpfen bis stechenden Schmerz unter dem Großzehengrundgelenk an. Typisch ist hier ein lokaler Druckschmerz. Meist sind in dieser Region Rötung und Schwellung sichtbar. Häufig ist das mediale Sesambein gebrochen. Des Weiteren fällt ein hinkender Gang auf. Zur Entlastung wird der Fuß über den Fußaußenrand abgerollt. Temporär kann es zu einer Schmerzlinderung kommen. Allerdings setzen nach anschließender Belastung wieder heftige Schmerzen ein. Bei Stressfrakturen liegt zudem oft ein erhöhtes mediales Längsfußgewölbe vor. 

Differenzialdiagnose

Unspezifische Sesambeinentzündung

Von einer sogenannten Sesamoiditis sind oftmals Tänzer, Marathonläufer oder Jogger betroffen. Ursächlich stehen lokale Durchblutungsstörungen und konstitutionelle Faktoren am Fuß zur Diskussion.

Bei Menschen mit einem Hohlfuß (Pes excavatus) oder bei Verkürzung des dreiköpfigen Wadenmuskels (Musculus triceps surae), bei denen eine verstärkte Vorfußbelastung durch ein erhöhtes mediales Längsfußgewölbe vorliegt, tritt häufiger eine Entzündung der Sesambeine und des umliegenden Gewebes auf. Ferner leiden Patienten mit einem Hallux valgus oder Hallux rigidus eher an einer Entzündung der kleinen Schaltknochen. Folgen sind Schmerzen am Mittelfuß (Metatarsalgie). Des Weiteren kommen als Auslöser statische Veränderungen des Fußes durch permanentes Tragen von High Heels mit dünner Sohle und sehr hohen Absätzen  – meist über 10 Zentimeter – in Betracht.

Klinisch besteht unterhalb des Großzehengrundgelenks und der oftmals geröteten und überwärmten Großzehe ein starker Belastungsschmerz beim Stehen, Gehen und Laufen.

Spezifische Sesambeinentzündung

Auslöser einer spezifischen Sesambeinentzündung sind chronisch entzündliche Grundkrankheiten wie rheumatoide Arthritis, Fußgicht (Podagra), Knochenmarkentzündung (Osteomyelitis) mit Knochenentzündung (Ostitis) und Knochenhautentzündung (Periostitis). Vor allem können Ulzera aufgrund eines diabetischen Fußes mit vorliegender Osteomyelitis eine spezifische Sesambeinentzündung auslösen. Stärker betroffen ist davon in der Regel das etwas unbeweglichere mediale Sesambein.

Aseptische Knochennekrose

Eine Osteonekrose tritt oftmals am medialen Sesambein auf. Häufiger betroffen sind Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Als Ursache werden Überlastung oder Mikrotraumata angenommen. Betroffene geben akute, stechende Schmerzen unter dem Großzehengrundgelenk an, die sich bei Belastung erheblich verstärken.

Degenerative Veränderungen der Sesamoide

Schmerzhafte Verschleißerkrankung sind hauptsächlich Begleiterscheinungen bei Vorfußerkrankungen wie Hallux valgus oder Hallux rigidus.

Anlagebedingtes mehrteilige Sesambein

Nach Literaturangaben kommt bei circa 10 Prozent der Menschen ein zwei- oder mehrgeteiltes Sesambein, ein sogenanntes Sesamoideum partitum, vor. Zu etwa 25 Prozent besteht die Anlage beiderseits. Hiervon ist besonders das mediale Sesambein betroffen. Ein geteiltes laterales Sesambein ist eine Seltenheit.

Bei einem Sesambein mit mehreren Teilen handelt es sich um eine Normvariante, die auf eine fehlende Verschmelzung zum Zeitpunkt der Verknöcherung (Ossifikation) zurückzuführen ist. Nennenswerte Symptome bestehen in der Regel nicht.

FALLBEISPIEL: SESAMBEINFRAKTUR AN DER GROSSZEHE

Beim Sprung gegen eine Wand rutschte ein 43 Jahre alter Kletterer ab und verlor das Gleichgewicht. Infolge des Sturzes kam es zu einem Hyperdorsalextensionstrauma mit heftigen Schmerzen im Großzehengrundgelenk. Es bestand bei der ärztlichen Konsultation ein ausgeprägter Druckschmerz plantar am rechten I. Mittelfußköpfchen mit Bewegungseinschränkung im Großzehengrundgelenk bei medialer Sesambeinfraktur. 

Nach Kryotherapie, Hochlagerung, Einnahme von Ibuprofen 600 mg und Entlastung an zwei Unterarmgehstützen kam es nur zu einer geringen Linderung der Beschwerden. Allerdings kam der Betroffene mit einem anschließend verordneten Vorfußentlastungsschuh nicht zurecht, sodass eine sechswöchige Entlastung im „Aircast Short Walker“ erforderlich war. Anschließend erhielt der Patient Weichbettungen und vorübergehend eine Ballenrolle am Konfektionsschuh. Danach war er beschwerdefrei.

2  Stimmgabeltest am I. Metatarsalköpfchen plantar zum Ausschluss einer Sesambeinfraktur. Foto: Renate WolanskyDiagnostik

Im Vordergrund steht zunächst eine ausführliche Anamneseerhebung, besonders auf stattgefundene Traumata, extreme sportliche Betätigung, bekannte entzündliche Erkrankungen oder weitere Grundkrankheiten. Bei der Inspektion fallen in der Region des Großzehengrundgelenks häufig eine Rötung und Schwellung auf. Mithilfe einer Palpation wird die Großzehe maximal überstreckt (dorsalextendiert) (Abb. 1). Hierbei kommt es zur typischen Schmerzverstärkung. Des Weiteren liegt in der Regel palpatorisch ein erheblicher Druckschmerz unterhalb des I. Metatarsalköpfchens vor.

Ein Stimmgabeltest zur Abgrenzung einer Sesambeinfraktur und von einem harmlosen anlagebedingten geteilten Sesambein sollte immer erfolgen (Abb. 2). Dabei werden mit einer schwingenden Stimmgabel, die plantar auf das I. Mittelfußköpfchen aufgesetzt wird, bei einer Fraktur Schmerzen ausgelöst, während der Test bei einem geteilten Sesambein schmerzfrei ist.
 
Zur bildgebenden Diagnostik wird zunächst die Röntgenuntersuchung eingesetzt. Diese erfolgt im dorsoplantaren, seitlichen und tangentialen Strahlengang. Bei einer Fraktur erscheint das distale kleine Fragment – meist des medialen Sesambeins – unregelmäßig begrenzt und gegebenenfalls verschoben (disloziert). Eine Verkalkung besteht nicht (Abb. 3a+b). Des Weiteren ist die Fraktur in der Computertomografie oder Magnetresonanztomografie zu erkennen.
 
Anlagebedingte mehrteilige Sesambeine weisen einen abgerundeten, glatten regelmäßigen Rand auf und können so gegenüber einer Fraktur gut abgegrenzt werden. Bei einer aseptischen Knochennekrose entwickelt sich ein scholliger Zerfall des Sesambeins mit krankhafter Verhärtung oder Verkalkung (Sklerosezonen). Eine unspezifische Sesamoiditis erscheint röntgenologisch unauffällig. Im weiteren Verlauf sind mithilfe einer Knochenszintigrafie  (nuklearmedizinisches Diagnostikverfahren) pathologische Veränderungen zu erkennen. Im Gegensatz dazu treten bei einer spezifischen Sesamoiditis im
Röntgenbild vor allem Zysten und Sklerosezonen auf. Typisch ist bei dieser Form oftmals eine markante Knochenauflösung (Osteolyse). Degenerative Veränderungen der Sesamoide erscheinen als Zysten, kleine knöcherne Ausziehungen (Osteophyten) und Sklerose. Aufgrund der auslösenden Großzehenerkrankungen erscheint der Gelenkspalt des Großzehengrundgelenks deutlich verschmälert.
 
Eine Skelettszintigrafie erfolgt letztlich bei unauffälligem Röntgenbefund mit weiter zunehmenden Beschwerden und erfolgloser konservativer Therapie.
 
3a + b  Röntgenbilder des rechten Fußes im dorsoplantaren und seitlichen Strahlengang zeigen eine Fraktur des medialen Sesambeins ohne Verschiebung (Dislokation). Foto: Renate Wolansky
 

Therapie einer Sesambeinfraktur

Die Behandlung richtet sich nach der Ursache und den vorliegenden Grundkrankheiten. Im Vordergrund steht bei allen Erkrankungen der Sesambeine eine Entlastung.

4  Beispiel für einen Vorfußentlastungsschuh. Foto: Renate WolanskyIn der akuten Phase kommen Kryotherapie, Hochlagerung des Fußes und zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung NSAR (nicht-steroidales, anti-rheumatisches Mittel) nach Bedarf sowie gegebenenfalls Kortison-Injektionen infrage. Eine Entlastung kann mit einem Vorfußentlastungsschuh für vier bis sechs Wochen versucht werden (Abb. 4). Bei einer Fraktur wird eine Immobilisierung im „Aircast Short Walker“ erreicht (Abb. 5). Die Tragedauer sollte mindestens vier bis sechs Wochen betragen.

Die Vorteile dieser leichten Fußorthese beruhen auf mehreren individuell aufpumpbaren Luftkammern. Die zwei Halbschalen sind mithilfe von Klettverschlüssen dem Volumen des Fußes gut anzupassen und ermöglichen nach Öffnen eine sorgfältige Hautpflege. Um Druckstellen zu vermeiden, ist die Orthese komplett mit Schaumstoff ausgepolstert. Darüber hinaus ist die abriebfreie und rutschfeste Gummiprofilsohle biomechanisch gefertigt, wodurch Stöße und entstehender Druck abgefangen und gedämpft werden.

5  Der „Aircast Walker“ ist eine kurze Unterschenkel-Fuß-Orthese zur Immobilisierung des Fußes in einer vorgegebenen Position. Foto: Renate WolanskyNach Ausheilung sind Schuhe mit einer dicken Laufsohle und niedrigem Absatz empfehlenswert. Die Absatzhöhe sollte bei Frauen 4 Zentimeter und bei Männern 3 Zentimeter nicht überschreiten, um eine zusätzliche Vorfußbelastung zu vermeiden. Zur Verbesserung der Abrollphase des Fußes beim Gehen und Laufen ist eine Ballenrolle an der Laufsohle hilfreich. Bei einer verschobenen (dislozierten) Sesambeinfraktur mit großen Fragmenten kann eine Schraubenosteosynthese in Betracht kommen. Hat sich nach einer Fraktur bereits ein Falschgelenk (Pseudarthrose) in den großen Fragmenten entwickelt, kann zusätzlich zur Schraubenosteosynthese eine autologe Spongiosaplastik, also eine Knochenbälkchenplastik vom Betroffenen, erfolgreich sein.

Eine Indikation zur Entfernung der Sesambeine erfordert immer ein strenges und sorgfältiges Abwägen von Vor- und Nachteilen, da je nach Entfernung (Exstirpation) die Mobilität des Fußes bei Belastung eingeschränkt sein kann.

 

IM ÜBERBLICK:
FUNKTIONEN DER SESAMBEINE

• Druckaufnahme
• Reduzierung von Reibung
• Abfangen des Körpergewichts
• Schutz der Sehnen und Knochen
 
 

Autorin
Orthopädin Dr. Renate Wolansky
Luisenstraße 26
06618 Naumburg 

 
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